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KUNSTFORUM International: Interview mit Christos M. Joachimides von Wolfgang Max Faust

Zitat

KUNSTFORUM International

Band 56, 1982

ZEITGEIST Ein Interview mit 

Christos M. Joachimides

von Wolfgang Max Faust

 

F: Der Titel der von Ihnen, Herr Joachimides und Norman Rosenthal, organisierten Ausstellung Zeitgeist weckt die Assoziation an Goethes Faust-Zitat: „Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist“. Als kritische Anmerkung tauchte dieses Zitat natürlich auch sofort im Zusammenhang mit Ihrer Ausstellung in der deutschen Presse auf. Beginnen wir also mit dieser Thematik: Wie steht es mit dem Zeitgeist und der Kunst heute?

J: Dieses Goethe-Zitat ist nicht ganz falsch. Denn unsere Ausstellung hat auch, wie es im zweiten Teil des Zitats wohl heißt, sehr viel zu tun mit dem eigenen Geist, nämlich mit der Subjektivität der Ausstellungsmacher. Nur, um den guten alten Hegel in Erinnerung zu rufen, würde ich meinen, das sei eine subjektive, aber wohl kaum eine private Ausstellung. Wenn ich das erläutern darf: Ich meine, die Ausstellung ist eine subjektive Setzung, die der Erfahrung und der Verantwortung, die zwei Ausstellungsmachern – engagiert in einem bestimmten Bereich – entstammt. Dabei schließen wir die Hoffnung ein, daß vielleicht diese Setzung zugleich vom Besonderen zum Allgemeinen zu führen vermag.

F: Kann aber heute überhaupt von dem Zeitgeist gesprochen werden, ganz zu schweigen von einer einfachen Übernahme von Hegels Definition. Ist dieser Begriff mit seinem Einheitsdenken überhaupt akzeptabel angesichts einer Epoche, die Entwicklungen allenfalls durch Pluralität in Bewegung setzen kann.

J: Im Sinne der Definition von Hegel haben Sie recht. Aber von uns ist auch gar nicht beabsichtigt, eine philosophische Seminararbeit hier in Gang zu setzen, sondern vielmehr, der Begriff Zeitgeist ist von uns benutzt worden als eine Metapher, eine Metapher, die erfragen soll, wie in einem bestimmten Zeitabschnitt – in dieser Dekade, die vor zwei Jahren begann und die so heiß und kontrovers diskutiert wird – welche Haltung, welche Phänomene, welche ästhetischen, geistigen und psychologischen Probleme die Künstler unserer Zeit bewegen.

F: Für die Ausstellung Zeitgeist haben Sie 45 Künstler, vor allem aus Italien, Westdeutschland und den USA ausgewählt, deren Arbeiten repräsentativ und exemplarisch sein sollen für das, was heute in der Kunst Ihrer Meinung nach „auf der Höhe der Zeit“ ist. Wie kam diese Auswahl zustande?

J: Wie Sie wissen, haben mein Kollege Norman Rosenthal und ich vor zwei Jahren in London die Ausstellung ,,A New Spirit in Painting“ organisiert, in der Royal Academy of Arts. Damals, glaube ich, haben wir wie wenige Ausstellungsmacher unserer Zeit enorme Mühe und Zeit auf uns genommen, um in allen wichtigen Ländern, wo seit dem Impressionismus die Entwicklung der westlichen bildenden Kunst virulent war, eine Untersuchung in Gang zu setzen. Wir wollten feststellen, wie, in welcher Form, in welchen Inhalten, in welchen Tendenzen und psychologischen, gesellschaftlichen und auch intentionellen Haltungen die Künstler heute arbeiten. Ich glaube, das war ein wichtiger Fundus, auf dem wir unsere weiteren Überlegungen, sowohl theoretischer wie empirischer Art, aufbauen konnten. Wir haben keine Mühe gescheut, bis in die letzte Waschküche von Paris oder bis in die Bronx hineinzugehen und alles zu untersuchen, was in diesem Bereich geschieht.

F: Kommen wir zurück auf Ihre Ausstellung in London ,,A New Spirit in Painting“ – Ein neuer Geist in der Malerei. In dieser Ausstellung versuchten Sie, diesen „neuen Geist“ zu dokumentieren. Die Namen der Künstler reichten von Frank Auerbach bis Robert Ryman von Francis Bacon bis Gerhard Richter, von Allan Charlton bis Malta. Keiner dieser Künstler tritt nun in Berlin unter dem Aspekt Zeitgeist auf. Wie rasch wandelt sich ein neuer Geist? Was bestimmt Ihrer Meinung nach den Wandel?

J: Das kann ich Ihnen genau erklären: In London haben wir versucht, die Malerei unserer Zeit in ihrer extremen Komplexität darzustellen, um zu untersuchen, welche Trassen, welche Vorläufer, welche Modelle zu sehen, zu diskutieren, in Affinitäten zu entdecken sind, und ob und wie diese ungewöhnlichen, neuen Setzungen, die unser Jahrzehnt bestimmen, in der neuesten Kunstgeschichte verankert sind. Dagegen war hier in Berlin diese Stütze, diese Notwendigkeit, nicht mehr gegeben. Und hinzu kommt: Der Martin-Gropius-Bau, diese extreme Situation an der scharfen Kante von zwei Welten, in diesem fast auch symbolisch zu verstehenden Niemandsland gibt eher die Freiheit und die Möglichkeit, das Heute, ungeschminkt, aggressiv, wie es wirklich ist, zur Diskussion zu stellen, als dies in einem Weltinstitut, wo Historisches eine große Rolle spielen muß, möglich ist.

F: Geht man einmal die Namen der in Berlin beteiligten Künstler durch, so bilden sie keineswegs ein homogenes Ganzes. Zu fragen ist also, neben den von Ihnen aufgezeigten Gemeinsamkeiten, zugleich nach dem, was die Künstler voneinander trennt. Welche Pole gibt es für Sie in dieser Ausstellung?

J: Bei der Konzeptionierung dieser Ausstellung haben wir zunächst ein Skelett aufgestellt, das vor allem Künstler der mittleren und jüngsten Generation enthält. Dann haben wir von dieser Basis zurückgeblickt und überraschend festgestellt, daß einige Künstlerpersönlichkeiten nicht allein in einer bestimmten Richtung oder Datierung zu sehen sind, sondern in einer wunderlichen Weise aus einer anderen Perspektive. Zum Beispiel: ich erinnere mich, Ende der 60er Jahre, als die Generation der Pop-Art international kodifiziert wurde, spielte ein bedeutender Künstler wie Cy Twombly immer eine zwielichtige Rolle. Ich glaube, daß ein so bedeutender Künstler heute, aus dem Blick am Anfang der 80er Jahre eine Bedeutung in der Entwicklung der Kunst bekommt, die explosiv und ganz anders zu würdigen und einzubinden ist in unsere visuelle Erfahrung als die seiner Generationskollegen. Ähnliches gilt für Joseph Beuys, ohne daß er formal mit der jüngsten Kunst verwechselt werden dürfte. Beuys hat wie ein Prophet in der Wüste Wasser gebracht, was in einer wunderlichen, mutativen Weise von ganz jungen Künstlern aufgenommen worden ist. Diese merkwürdigen Phänomene wollten wir in diese Ausstellung einbringen.

F: Welche Gruppierungen oder Pole sehen Sie für die jungen Künstler, die ja untereinander stärkere Gemeinsamkeiten haben, als die Einzelgänger Cy Twombly oder Joseph Beuys?

J: Ich glaube, daß – entsprechend einem Ausspruch, den ich vor mehreren Jahren zur großen Verwunderung eines Teils der Kunstwelt tat – große Kunst provinziell ist, provinziell in Anführungsstrichen. Ich habe damit gemeint, daß etwa Picasso ein provinzieller Künstler ist, denn, wie wir wissen, hat er ja nie richtig französisch sprechen gelernt, obwohl er sein ganzes Leben fast dort verbracht hat … Und heute kann man sehr deutlich sehen, daß eine sehr prononcierte Handschrift in Europa zu lesen ist. Es gibt zum Beispiel eine junge Generation von deutschen Künstlern, die vielerlei Anregungen aus der deutschen Geistesgeschichte erhält. Und dazu möchte ich etwas sagen: Ich glaube nicht, daß man, wie heutzutage modisch, das Wort Expressionismus als eine Schleuder, als eine Dreckschleuder gegen Künstler benutzen darf. Das passiert oft: Es sind ja nur Expressionisten! Ich möchte ganz was anderes behaupten: Wenn man sich mit der nordeuropäischen Geistesgeschichte auseinandersetzt, wird man feststellen, daß in diesem Bereich, der als germanische Kultur, historisch und anthropologisch, bezeichnet werden kann, zwei Kontinuen immer wieder festzumachen sind: Romantik und Expressionismus. Expressives Gestalten ist nicht ein Phänomen datierbar etwa zwischen 1905 und 1913; es ist vielmehr eine Haltung, die als Kontinuum sehr weit zurückreicht von Matthias Grünewald bis Edvard Munch, von der Donauschule, bis zu van Gogh und Hodler. Es ist ein geistesgeschichtliches Kontinuum.

F: Nun ergibt sich aber in der Gegenwart sicherlich eine ganz spezifische Konstellation für den von Ihnen entwickelten Traditionsstrang. Zu fragen ist danach, was die spezifische Qualität der von Ihnen vorgestellten Künstler ist, die ja von den Kritikern als „Salonmaler an der Mauer“, als „angepaßte Aufgeregte“, als „Zeitgeist-Spontis“, geschmäht werden.

J: Etwas was verblüffend und wichtig in der jüngsten deutschen Malerei zumindest in ihren wichtigsten Exponaten ist, ist eine mutige Unbedenklichkeit sowohl formalen Mitteln, wie Inhalten gegenüber. Es ist sehr gut verständlich, wenn zunächst ein Betrachter, der auf andere Muster der letzten zwei Jahrzehnte geschult ist, darüber erschrickt.

Nur, wenn man intensiver hinschaut, dann bin ich davon überzeugt, daß ohne Schultafel und ohne Erklärungen ein Einstieg möglich ist, den ich selbst in einer überraschenden Weise beim Publikum entdeckt habe. Ein Erlebnis, was mich in diesem Jahr tief beeindruckte: Als eine der wichtigsten Ausstellungen der neuen Strömungen der deutschen Malerei im Folkwang-Museum in Essen eröffnet wurde, erlebte ich etwas, was mich zutiefst rührte und überraschte und in Gesprächen am Abend mit dem Museumsdirektor auch eine definitive Bestätigung fand. Zum ersten Mal seit dort Ausstellungen gemacht werden, fand ein Volksfest statt, aus der ganzen Umgebung des Ruhrgebiets strömten junge Leute herbei, wie in ein Popkonzert. Und dieses Erlebnis ist der Beweis, daß diese Kunst eine Entsprechung hat, einen Nerv trifft, und sehr große Teile einer jungen, suchenden Generation anspricht.

F: Neben der angeblich fehlenden Qualität vieler Arbeiten vermissen zahlreiche Kritiker ein fehlendes theoretisches Konzept für diese Ausstellung. Der Katalog scheint da offensichtlich nicht sehr hilfreich zu sein, sowohl Ihr eigener Text, wie die Texte von Rosenblum und Hilton Kramer umreißen ja eher nur das Thema, das von Theoretikern in Italien, den USA und auch in Deutschland schon seit einiger Zeit diskutiert wird. Stichwörter hierfür wären etwa „Transavantgarde“, „Postmoderne“, „Ästhetik der Verstreuung“… Was bestimmte die Auswahl der kunsttheoretischen Katalogbeiträge?

J: Zunächst darf ich die zwei Begriffe aufnehmen, die Sie zitiert haben: Transavanguardia und Postmoderne. Da möchte ich mich etwas kritisch zu äußern. Ich glaube nicht, daß wir in einer Zeit leben, die postmodern ist oder einer Meta-Avantgarde signalisiert. Ich glaube vielmehr, daß ein falscher Begriff von Avantgarde und Moderne in einer fast terroristischen Ästhetik geherrscht hat, und es ist zu untersuchen, ob er richtig war. Ich glaube, und das habe ich auch in meinem Text skizziert, daß es eine Chimäre und eine böse Interpretation von Kunstgeschichte ist, zu meinen, daß die Innovationen der letzten zwei Jahrzehnte „richtig“ waren, und plötzlich irgendwelche Nichtskönner und auch noch Reaktionäre angeblich die Kunst verunstalten. Anderes ist zu sagen: Es ist lange übersehen worden, daß seit dem Surrealismus keine entscheidende neue Setzung zu sehen ist, und daß alle Setzungen in diesem Jahrhundert mit dem Surrealismus zu einem ersten Abschluß der Innovationstheorie kommen. Ich bin der Meinung, daß die Nachkriegskunst sehr wesentlich charakterisiert wird durch ein Rekurieren auf entscheidende Findungen der ersten Jahrhunderthälfte. Nur: dieses Rekurieren ist kein Epigonentum, es darf nicht denunziert werden als Wiederholung, und es ist nicht retrograd oder regressiv. Es ist der verzweifelte Kampf der Künstler in ihrer Zeit – ob das Jackson Pollock in den vierziger Jahren oder Joseph Beuys im Düsseldorf der fünfziger Jahre war, ob Baselitz oder Penck Anfang der sechziger Jahre in Berlin oder in Dresden, oder ob heute Salomé, Fetting, Middendorf oder Dahn: ihre Versuche, ihre Zeit zu gestalten, ihr visuell Ausdruck zu geben, das ist das Gültige der Nachkriegs-Kunstepoche.

F: Dabei entwickeln Sie natürlich einen ganz bestimmten Gang der Kunstgeschichte. Man kann sicherlich auch eine andere Position einnehmen. Wenn man daran denkt, daß etwa seit der Mitte der sechziger Jahre ein ganz immenser Umbruch in der bildenden Kunst stattgefunden hat, indem etwa die konzeptuelle Kunst anstelle der Bilder die Sprache als Medium der Kunst entdeckte, dann muß man doch die gegenwärtige Wiederkehr der Bilder vor dieser sehr intellektuellen, esoterischen Kunst sehen, die sich mit linguistischen, semiologischen, auch soziologischen Aspekten beschäftigte.

J: Ja, das ist richtig, nur, das ist nicht einzigartig, sondern es ist die notwendige Rebellion der Söhne gegen die zu blutleeren Akademikern gewordenen Väter. Das ist nicht neu. Ich glaube, um 1920 – grosso modo – haben wir in Europa auch einen solchen Umbruch, ich denke an Strawinsky oder Picasso, wo ein zur Akademie erstarrender Kubismus einen Schlag ins Gesicht bekam und Picasso selbst, sogar in seinem Werk diesen Widerspruch aufspürt und plötzlich diese phantastischen monumentalen Weiber hinschmeißt, und sagt: Jetzt die Vitalität, die Unmittelbarkeit, meine Realität geht weiter, ich werde nicht zu einem toten Akademiker! Diese Haltung sollten wir beispielgebend für das Gesicht der Kunst unseres Jahrhunderts verstehen.

F: Blicken wir aber auf die von Ihnen ausgestellten Werke, so müssen wir doch eher die irritierende Feststellung treffen, daß fast eigentlich hinter jedem Bild ein weiteres Bild steht, daß sich fast sämtliche Künstler auf geschichtliche Positionen beziehen. Wir sehen Rückblicke auf die pittura metafisica, auf den Expressionismus, auf das Informell, so daß man zugleich, glaube ich, sagen kann, daß „diese Werke unter einem anderen Gesichtspunkt durchaus historische Züge tragen. Wie sehen Sie das?

J: Ja, sicher, Sie haben einen sehr wichtigen Aspekt erwähnt. Neben den Deutschen ist ebenso bestimmend für das Bild der Kunst unserer Zeit der italienische Beitrag, und die italienischen Künstler gehen, wie Sie sehr richtig sagen, ganz entschieden auf den Futurismus und auf die Quellen der italienischen Kunst zurück. Auch die Bilder in unserer Ausstellung von Cucchi und Clemente können de Chirico nicht vergessen machen, diese große, entschiedene Gestalt der Kunst unseres Jahrhunderts, und ich finde, auch die Amerikaner – ganz entschieden das Werk von Julian Schnabel – haben mit dem abstrakten Expressionismus, mit Pollock und Klein zu tun, vielmehr als mit den unmittelbaren Lehrern Rauschenberg etwa – was oft mißverstanden wird. Ich meine, in allen drei Ländern, wo Entscheidendes und Wesentliches für die Kunst unserer Zeit geschieht, ist es nicht zufällig, daß die Söhne auf die Väter oder die Großväter kritisch aber sehr befreit reagieren. Es ist also keine Repetition, es ist kein Epigonentum, sondern es ist eine schöpferische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Und wie anders kann Kunst entstehen, als in der Auseinandersetzung mit Geschichte? Kunst kommt ja nicht von der Luft, kommt nicht, wie es oft falsch dargestellt worden ist, vom Leben, sondern Kunst kommt von Kunst.

F: Aber ist nicht zugleich in dieser Kunst, die aus der Kunst kommt, gegenwärtig fast ein Übermaß an Geschichte vorhanden? Denn in gewisser Weise können wir ja nicht von einem neuen Stil sprechen und noch nicht einmal von einer neuen, einheitlichen Kunstrichtung. Deshalb glaube ich, daß der Begriff Postmoderne, der sehr leicht zum Schlagwort werden kann, dennoch berechtigt ist, weil es einen sehr freien Umgang mit Geschichte gibt, in dem lineare Verlängerungen, die aufs Immerneue zielen, fast negiert werden.

J: Darf ich eine Gegenfrage stellen? Vielleicht verstehe ich die Geschichte der Kunst nicht so richtig: Wieso ist eigentlich ein Bild von Clemente oder Fetting „postmodern“ und nicht ein Bild von Ad Reinhardt. Ist nicht Reinhardt mindestens so postmodern, wenn man ihn vergleicht mit den Setzungen des Modernismus, um den angelsächsischen Begriff zu benutzen, ist er nicht viel mehr „postmodern“ verglichen mit den Setzungen von Malewitsch und Mondrian?

F: Die Frage möchte ich so beantworten: Ad Reinhardt zieht eine gewisse logische Konsequenz aus einer Entwicklung, er formuliert einen Schlußpunkt, während bei den gegenwärtigen Künstlern die Reflexe auf die Geschichte eher aussehen wie ein Springen in der Zeit, ein Sich-Hin-und-Her-Bewegen, ein Aufgreifen dessen, was man momentan braucht, ohne daß im traditionellen Sinne lineare Verlängerungen dargestellt werden … Doch zurück zu Zeitgeist. Die Präsentation Ihrer Ausstellung orientiert sich zum einen an der klassischen, auf Malerei und Skulptur beschränkten Ausstellungstradition, zum anderen an einer Inszenierung innerhalb einer vorgegebenen Architektur. Die übergreifende Ebene Zeitgeist kann deshalb als konzeptueller Rahmen allenfalls im Katalog stattfinden, was Sie mit den Texten von Bohrer, Feyerabend oder auch von Thomas Bernhard versucht haben. Doch der Katalog nun scheint insbesondere mit dem Aufsatz von Walter Bachauer: „Der Dilettant als Genie“ die Ausstellung selbst in Frage zu stellen. Genüßlich zitieren die deutschen Tageskritiker aus diesem Aufsatz, um die vorgestellten Maler als Dilettanten zu disqualifizieren. War Ihnen diese Problematik, diese Gefahr bewußt, und wie stehen Sie dazu?

J: Ich sehe das nicht als eine Gefahr, und die Problematik war uns sehr bewußt. Als wir an die Gestaltung dieses Kataloges herangingen, haben wir den Wunsch gehabt, im Katalog eine Plattform für eine kontroverse Diskussion zu schaffen, also nicht nur eine Art Theologie der ausgestellten Werke zu veranstalten. Wir wollten durchaus unterschiedliche Ansätze, unterschiedliche geistige Haltungen sichtbar machen und ihnen die Möglichkeit geben, sich im Katalog divergierend darzustellen. Ich finde, das ist keineswegs eine Schwäche oder – wie groteskerweise oft in einigen Kritiken behauptet wird – eine Art Lapsus der Veranstalter. Wir wollten ganz bewußt die Möglichkeit einer kontroversen Diskussion über diese Phänomene. Und ich glaube, gerade in diesem Katalog, wenn ich ihn vergleiche mit Publikationen der letzten Zeit – etwa den documenta-Katalog, der nur Klassiker-Nachdrucke gebracht hat – haben wir es erreicht, daß eine Reihe bedeutender Intellektueller und Dichter unserer Zeit, die nicht einmal unmittelbar aus dem Bereich der bildenden Kunst kommen, die Veranstaltung für so wichtig erspüren, daß sie wichtige Beiträge dazu leisteten. Bachauer, der ein Musikwissenschaftler ist, hat eine extreme, sehr überpointierte Äußerung gemacht, die wir respektieren. Das ist natürlich nicht unsere, sonst hätten wir diese Künstler selbstverständlich nicht ausgewählt. Ich finde es aber sehr schön und sehr positiv, wenn eine Diskussion möglich ist und nicht gleich ein Feind-Freund-Lager aufgebaut wird. Ich finde den Beitrag von Herrn Bachauer insofern interessant, als er sehr subjektiv seine, aus der Musik kommende Meinung auf die bildende Kunst überträgt und vielleicht etwas überpointiert formuliert. Aber das ist eine wichtige Möglichkeit innerhalb eines Projekts kontrovers zu diskutieren.

F: Abzulesen ist an Ihrer Ausstellung die Beschränkung auf einen bestimmten Typus der neuen Malerei, der heutzutage, leider, oft mit den Klischees versehen wird: Neue Wilde oder Neoexpressive Malerei. Diese Beschränkung spiegelt sicherlich zu Recht eine Haupttendenz in der Bildenden Kunst der Gegenwart wider. Dennoch scheint es problematisch, sie als den Zeitgeist in der bildenden Kunst zu bezeichnen. Denn nicht nur die Arbeiten der Künstler, die in anderen Medien – Videofilm, Performance etwa – arbeiten, fallen aus dem durch die Ausstellung festgeschriebenen Kunstbegriff heraus, sondern auch die Arbeit der Künstler, die sich der vereinheitlichenden Tendenz Ihrer Ausstellung entziehen, zum Beispiel Daniel Buren, On Kawara, Giulio Paolini oder Hanne Darboven. Und ich finde es erstaunlich, daß ein Künstler wie Gerhard Richter nicht in ihrer Auswahl vertreten ist. Kann eigentlich eine Ausstellung, die sich so prononciert als Repräsentation des Zeitgeistes versteht, auf Gegenstimmen und Irritationen Ihres Konzepts verzichten?

J: Sie haben eine Reihe von Namen erwähnt, um Beispiele zu zeigen, was eventuell fehlt. Ich möchte nicht diesen Namen einzeln nachgehen. Sie werden verstehen, daß darunter zumindestens zwei unterschiedliche Momente sichtbar werden. Künstler, deren Entwicklung wir nicht überzeugend, oder sehr problematisch gefunden haben, weshalb sie rausgelassen wurden. Das betrifft auch Phänomene, die sehr nah an der Konzeption unserer Ausstellung liegen. Und dann geht es um sehr bedeutende Künstler in Ihrer Aufzählung, die unserer Meinung nach ihren wesentlichen und definitiven Beitrag in der Geschichte der Kunst unserer Tage in einem anderen Moment gegeben haben. Es ist also, um ein Beispiel zu geben, das Auslassen von Jasper Jones aus unserer Ausstellung keine Jurierung seines kunsthistorischen Beitrags. Wir beide, Norman Rosenthal und ich, glauben, daß Jasper Jones eine der wesentlichen und entscheidenden Malerpersönlichkeiten unserer Zeit ist, doch sein Beitrag liegt sehr weit zurück in den späten fünfziger und den frühen sechziger Jahren. Deswegen ist Jasper Jones nicht dabei. Wenn Sie das als Modell sehen, können Sie erkennen, daß auch andere Künstler, die Sie erwähnt haben, ihren Schwerpunkt und ihren innovativen Beitrag woanders und in einer anderen Zeit geleistet haben.

Und dann: Sie haben etwas über die Medien gesagt. Es war in Rom 1970. Ein Abend mit Peter Handke. Auf dem Höhepunkt einer politisch kontrovers geführten Diskussion in Europa über die Künste und über die Kreativität, in einem heißen italienischen Auditorium, sagte Handke: Die progressivste Darstellungskunst ist für mich das Theater, nicht der Film! – Und er versuchte, dies dem brodelnden Auditorium klar zu machen. Er sagte, in einem überschaubaren Raum erleben wir im Theater die Aktivität von zwei Gruppen, einer agierenden, einer rezipierenden, mit allen Undenkbarkeiten eines Feuers, das ausbrechen könnte oder eines Ohnmachtsanfalls auf der Bühne. Das stiftet Unmittelbarkeit, Nichtentfremdung, Sinnlichkeit, Kommunikation. Wenn ich das – nicht als eine Anekdote, sondern als eine richtige Haltung der Betrachtung auch unserer Ausstellung gegenüber anführen darf, so würde ich sagen, daß die sogenannten traditionellen Medien, wie Malerei und Plastik, etwas sehr Unmittelbares und Sinnliches haben, und gerade diesen Moment finden wir, am Anfang dieses Jahrzehnts, als eine ganz zentrale Haltung des Künstlers dem Material oder dem kreativen Prozeß gegenüber. Deswegen erleben wir ganz bewußt die Konzentration auf diese zwei Medien mit allen ihren natürlichen Extensionen. Denn Plastik bei Lüpertz ist Bronze, Plastik bei Beuys ist die soziale Plastik. Malerei bei Baselitz ist Ölmalerei oder bei Chia oder bei Paladino; Malerei bei Mario Merz ist die Gestaltung aller möglichen Materialien zu einem malerischen Environment. Also, bei allen Extensionen der zwei Medien stellen wir fest, daß sie dennoch viel mehr an Sinnlichkeit vermitteln als dies technische Medien dieses Jahrzehnts vermögen.

F: Wenn ich Ihr Beispiel von Peter Handke aufgreife und auf die Malerei verlängere, so kann man sagen, daß die heutige Malerei in gewisser Weise sich ständig selbst gefährdet, so daß sie immer dann interessant ist, wenn sie auch den Zweifel an sich selbst erweckt, wenn sie nicht nur das schön gemalte Bild oder die Sujet-Erfüllung in einem bestimmten Stil ist, sondern wenn sie auch Aussagen über Malerei als Gefährdung, als Infragestellung, als Problem, enthält. Das betrifft auch die Person des Künstlers. Vielleicht hierzu: Kunst geht – so ein heißgeliebtes Vorurteil – weder nach Geschlecht noch nach Nation. Dennoch muß man im Rahmen von Ausstellungsbeteiligungen nach beidem fragen. Wie erklären Sie sich die Teilnahme von nur einer Frau und nur einem Franzosen?

J: Das sind zwei total unterschiedliche Themen, und ich bin sehr dankbar für diese Doppelfrage. Zuerst zur Frau, dann zum Franzosen. Als wir die Ausstellung konzipierten und die Werke auswählten, haben wir nach der ästhetischen Überzeugung, nach der unmittelbaren Erfahrung der Werke gehandelt. Wir haben nicht die Genitalien der Künstler primär betrachtet. Am Ende allerdings haben wir überrascht und etwas betroffen festgestellt, daß doch nur eine Frau dabei war. Darüber habe ich eine Hypothese. Meine Hypothese lautet, aus der Betrachtung auch des bedeutenden, gewichtigen Beitrages der Frauen in der Kunst von heute, daß ihr Schwerpunkt doch mehr in den neuen Medien liegt, bei der Performance, beim Video, beim Foto. Das hat – so meine Hypothese – mit dem Alter dieser Medien zu tun. Frauen treten in der Kunst selbstbewußt in einem Medium auf, in dem Moment, wo gleiche Chancen – grosso modo – existieren. Bei der Malerei und Plastik aber, wo dieses enorme, erdrückende und repressive Übergewicht der Männer über so viele Jahrhunderte herrscht, ist dies wahrscheinlich viel schwieriger. Der Prozeß wird länger dauern, bis die Frauen hier ihren Platz und das Gewicht erobern, das ihnen zukommt. Nur in diesem Zeitpunkt, in diesem Moment, als wir die Ausstellung Zeitgeist gestalteten, kamen wir plötzlich zu der Erkenntnis, daß nur Susan Rothenberg dabei war.

F: Und der Franzose?

J: Zum Franzosen: Ich glaube, daß in keinem Land, das entscheidend die Geschichte der Kunst mitgeprägt hat, eine derartige Krise, ein derartiger Niedergang der visuellen Kultur festzustellen ist, wie in Frankreich seit dem Beginn der sechziger Jahre. Für jemanden wie mich, der im Kreise der französischen Kultur aufgewachsen ist und als Student entscheidende Prägungen durch das Informell bekommen hat, ist es doch sehr überraschend, festzustellen, daß seit Yves Klein, seit dem Nouveau Réalisme überhaupt kein wesentlicher Beitrag aus Frankreich in der bildenden Kunst kommt. Und nicht nur das, Paris, ehemals Zentrum der Kunst für zwei Jahrhunderte, ist zu einer provinziellen Enge und Bedeutungslosigkeit abgesunken. Meine Hypothese, die ich damit verbinde, ist, daß der größte Höhepunkt, den Frankreich nach dem Krieg im Bereich der visuellen Kultur erlebt hat, zugleich das Manko, den Virus der Katastrophe in sich barg, nämlich das Informel. Das Informel, die letzte große, imperialistische visuelle Kultur von Dahomé bis Reykjavik, war zugleich ein Flächenbrand, eine Hybris, die die französische visuelle Kultur für Jahrzehnte lahmgelegt hat. Seit diesem Moment der größten expansiven Anstrengung, sind alle Kräfte in diesem Kulturkampf investiert worden und seitdem haben wir eine bedrohliche Stille.

F: Geht man die Liste der Künstler durch, die an Zeitgeist beteiligt sind, so stellt man ein deutliches Übergewicht europäischer Maler fest. Im Gegensatz zur letzten großen Phase der Bilderseligkeit in der bildenden Kunst, der Pop art, sprechen die gegenwärtigen Bilder ein deutlich europäisches Idiom. Wie erklären Sie sich diesen Wandel und was charakterisiert ihn?

J: Das erkläre ich aus den Überlegungen, die wir schon über die deutschen und italienischen Künstler angestellt haben, und aus welchen Quellen sie gespeist werden. Es ist nicht zufällig, daß die Bezugspunkte dieser europäischen Künstler in diesen zwei großen Bildtraditionen, dem Expressionismus und dem Futurismus liegen. Die neuen Bilder sind eine Setzung gegenüber dem, was vorher geherrscht hat, nämlich gegenüber einem Satz an der Wand, einem Objekt oder einem Konzept. Sie sind eine handwerkliche Reaktion gegenüber der etablierten Spätavantgarde oder gar, wie ich meine, Akademie. Die Künstler nehmen Ausdrucksmittel in Anspruch, die sich unterscheiden von den Mitteln und Medien der vorhergegangenen Generation. Sie formulieren als Gegenposition zu einer Kultur, die keiner Bilder bedurfte, eine Flut von Bildern. Das ist also eine ganz wesentliche Haltung der Künstler.

Das Zweite ist, was oft vergessen wird, die besondere Situation in Deutschland. Anders als in Amerika oder in Italien haben wir in Deutschland eine sehr komplexe und schwierige Entwicklung der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach einer ersten scheuen Orientierung an mehr oder weniger französischen Modellen, hat sich das Nachkriegsdeutschland weitgehend – im Sinn auch der atlantischen Allianz – an Amerika angelehnt. Dabei wurde Köln zum größten Umschlagplatz der amerikanischen visuellen Erzeugnisse der letzten zwanzig Jahre. Köln, als eine Art Macao oder Shanghai überflutete den ganzen Kontinent mit amerikanischen Produkten. Und es ist nicht zufällig, daß sehr weit weg vom Rheinland, isoliert in Berlin, eine Künstlergeneration, speziell eine Malergeneration, zu arbeiten begann, die außerhalb des Kunstkontextes der Zeit wirkte, weil sie sich nicht unbedingt und nicht notwendigerweise anpassen mußte. Sie zeichnete modellhaft eine Vision von Kunst, die mit den Quellen der deutschen geistesgeschichtlichen Tradition zu tun hat. Und es ist nicht zufällig, daß auch hier in Berlin, neben Köln allerdings, aber doch zuerst in Berlin auch die jüngste Generation der deutschen Malerei ihren Beginn hat. Das hängt auch mit dieser sehr merkwürdigen Hochschule der Künste in Berlin zusammen, einer Gründung der letzten Desperados des Expressionismus, nämlich Karl Hofer, Pechstein, Schmitt-Rottluff. Die meisten Künstler, die hier studierten, studierten entweder unmittelbar bei diesen letzten Barden des Expressionismus oder bei deren Schüler, Kaus zum Beispiel. Die allerjüngsten nun waren oft Schüler dieser Generation von Baselitz, Lüpertz, Hödicke, Koberling. Und das, finde ich, ist ein sehr wichtiges Moment einer im besten Sinne kreativen, mutativen Kontinuität der deutschen Kunst, wo Berlin einen sehr wichtigen Platz einnimmt. Dagegen in Köln, bei den besten Vertretern der Kunst dort, sieht man den anderen Standpunkt, die andere Offenheit, die spielerische, kommunikative Veranlagung anderen Phänomenen gegenüber, etwa der italienischen Kunst von heute oder gewissen Phänomenen der amerikanischen Kunst. Doch die Haltung, die Idiosynkrasie ist unterschiedlich.

F: Sie haben gerade einen Aspekt angesprochen, der sich sowohl auf regionale Unterschiede in Deutschland in der Kunstproduktion bezieht, als auch auf unterschiedliche Reaktionen auf die jüngste Vergangenheit in der Kunstgeschichte. Kann man sagen, daß der Hinwendung zu Europa gegenwärtig in der westlichen Kunst auch eine Umdeutung dieser jüngsten Vergangenheit in der Kunst entspricht? Zum Beispiel: Was in Deutschland schon seit Jahren und Jahrzehnten eigentlich wenig beachtet und gleichsam in Distanz zu den Avantgardeströmungen – etwa Minimal- und Konzeptart, Politkunst, Arte povera, Individuelle Ideologien – entstand, wird nun bei Lüpertz, Baselitz, Hödicke, Penck oder Immendorff als aktuell und auf der Höhe der Zeit diskutiert. Die Aktualität resultiert dabei, so sehe ich es, auch aus der Einbeziehung dieser Künstler in die Äußerungen der jüngsten Generation. Traten bis vor Kurzem die Künstler der älteren und der jüngeren Generation eher in getrennten Ausstellungen auf, so faßt Zeitgeist sie programmatisch zusammen. Die Differenzen zwischen den Generationen werden dadurch – meiner Meinung nach – verwischt; eine Gleichförmigkeit wird hergestellt, die die Unterschiede zwischen den jüngeren und älteren Positionen nicht mehr deutlich werden läßt.

J: Ich glaube, gerade die Gegenüberstellung in einer Ausstellung von Künstlern verschiedener Generationen, die eine geistige Klammer kennzeichnet, erleichtert unser Verständnis für die visuelle Kultur einer Zeit und hilft, Vergleiche zu ziehen und Rang-, Qualitäts- und Imaginationsunterschiede zu diskutieren. Warum soll man immer wieder Ghettos errichten, wenn wichtige Künstler in derselben Zeit wirken und in einem ähnlichen Geist? Warum soll man sie nicht in einer Ausstellung oder in einem Kontext sehen, und immer wieder in diesen Fehler verfallen, das Jüngste als das Neueste zu definieren, und nicht das Jüngste als das Lebendigste neben anderen Phänomenen, die sehr entscheidend sind, wie Reife und Meisterschaft!

F: Die Zeitgeist-Ausstellung kann man durchaus als Zusammenfassung einer Entwicklung sehen, die seit dem Ende der siebziger Jahre durch zahlreiche Ausstellungen dokumentiert und vorbereitet wurde. Ich denke etwa an Jean Christophe Ammans und Zdenek Felix‘ Ausstellungen der „Jungen Italiener“ und der ,,Jungen Deutschen“, an Martin Kunz‘ Ausstellung der „Berliner Heftigen“ in Luzern, an Franz Haks Ausstellung der Mülheimer Freiheit in Groningen; ich denke an Aquile Bonito Olivas Ausstellung zur Transavantgarde in Rom oder auch an Ernst Busches „Bildwechsel“ ebenso wie an Westkunst oder documenta. Welche Stellung geben Sie ihrer Summe im Rahmen dieser Entwicklung?

J: Sie haben eine Reihe von Ausstellungen zitiert, wo, mit Ausnahme von documenta und Westkunst, diese Phänomene entweder ganz am Rande oder nur partiell im Mittelpunkt standen. Alle anderen Veranstaltungen waren sehr verdienstvoll, sehr wichtig, aber doch regional. Ich glaube, daß „A New Spirit in Painting“ und Zeitgeist – bei allen Unterschieden – die ersten zwei Ausstellungen waren, die eine Gesamtkunstentwicklung der westlichen Welt diskutierten.

F: Ihre Ausstellung ist eine internationale Summe. Sie ist nicht mehr regional. Nun stellt sich die Frage: Folgt jetzt nach dem „Hunger nach Bildern“ eine Tendenz zum international Opulenten, zum Kulinarischen? Verstärkt Ihre Ausstellung diese Tendenz?

J: Ich habe es auch sehr oft gehört, daß plötzlich die Kunst zu kulinarisch geworden sei. Das kann ich, wenn ich die Ausstellung Revue passieren lasse, schwer nachvollziehen; was die Kunst heute geworden ist, möchte ich nicht entscheiden. Sie ist sicher sehr widersprüchlich, sehr unterschiedlich, sehr verwirrend, aber in der Ausstellung Zeitgeist sehe ich neben einer großen und sinnlichen und farbenfrohen Ausstellung auch eine große Fröhlichkeit und eine starke Nachdenklichkeit, so daß es nicht so leicht wird, sie unter „Kulinarisches“ zu definieren. Eher, würde ich sagen, daß von Kiefer bis Höckelmann, von Fetting bis Cucchi sehr komplexe und oft schwer verdauliche visuelle Setzungen gezeigt werden und keineswegs etwas schnell Konsumierbares und leicht Verdauliches vorliegt.

F: Nun wird andererseits der Vorwurf gemacht, daß Sie mit Auftragsarbeiten, die sich auf die Architektur des Gebäudes beziehen, gleichsam die Bedienung eines Kunstausstellungsbetriebes in Gang gesetzt haben. Ein spezifischer Aspekt Ihrer Zeitgeist -Ausstellung ist ja die enge Verbindung von Konzeption und Ausstellungsort. Wie fügen sich Ihrer Meinung nach Konzeption und Ort für Sie im Martin-Gropius-Bau zusammen?

J: Sie fügen sich ideal zusammen aus zwei Gründen: der eine ist das Haus selbst und die Widersprüche und Probleme, die der Ort aufwirft, wo es steht. Der andere ist der Bau als Ort der Kunst, als Ort der Bewahrung, als Museum. Der Gropius-Bau ist eine Art Kaaba-Stein, aber nicht in Mekka, sondern an dem tragischen Schnittpunkt deutscher Geschichte, vielleicht europäischer Geschichte, an einem Ort, wo die Gestapo gefoltert, die SS die Vernichtung von Millionen Menschen geplant hat, wo Göring residierte … Wenn man das Haus betritt, meint man, aus der Geschichte ausgeschieden zu sein, ein Traum von Schönheit und Harmonie, formalästhetischen Proportionen überkommt den Zuschauer. Doch schon ein Blick aus dem Fenster präsentiert die unerbittliche Wirklichkeit.

Dieser unerträgliche Widerspruch war für uns eine Herausforderung, eine Inszenierung zu wagen. Die Präsentation der Kunst ist immer eine Inszenierung!

Im Gropius-Bau haben wir dafür eine Situation vorgefunden, eine architektonische wie eine historische Situation. Die Herausforderung haben wir dialektisch aufzufangen versucht, indem wir mit den Künstlern ein Spiel zu spielen wagten. Als ob wir in der Renaissance gelebt hätten, und den Künstlern Aufträge gestatten durften, die – gespielt – für die Ewigkeit wären. Natürlich ist hier nichts für die Ewigkeit, sondern nur für drei Monate. Aber gerade dieses gebrochene Spiel entspricht der gebrochenen historischen Situation, in der sich dieses Haus, Berlin heute oder Europa heute, befindet. Gerade diese Metapher, ein Traum‚ von der Renaissance, der heute existiert, ein Traum von einer einheitlichen europäischen Kultur, die Künstler in ihren Räumen, wie Beuys oder Kounellis propagieren, hat uns motiviert, dieses Spiel zu wagen und als Mäzene aufzutreten. Die Art, wie die Künstler dieses Spiel aufgenommen haben, hat uns dann ermutigt, weiterzugehen und die Ausstellung so zu präsentieren, wie man sie jetzt in Berlin sieht, als Beispiel einer „meinungsbildenden Ausstellung“.

Wie wir ja wissen, waren bis ins 19. Jahrhundert hinein die Akademie oder Le Salon die Orte, wo der Souverän und die herrschende Klasse den Geschmack einer Zeit festlegten.

Nach dem großen Umbruch im 19. Jahrhundert, nach der sukzessiven Geschichte von Sezessionen und Abspaltungen und Rebellionen ist dieser gesellschaftliche Konsensus aufgehoben. Neue Formen der Geschmacksbildung, der möglichen Definition der Kunst einer Zeit mußten entstehen. Dies hat mehr und mehr in Veranstaltungen außerhalb des bürokratischen Museumsbetriebs stattgefunden. Veranstaltungen wie die Armory-Show in New York, die Sonderbundausstellung in Köln, die große Surrealistenausstellung in Paris, sind die Vorbilder dieser Ausstellungstradition, und auch die erste documenta von Arnold Bode. Veranstaltungen dieser Art haben viel mehr für das Verständnis und den Geschmack einer Zeit ausgesagt als die normalen Veranstaltungen von Oktober bis Mai eines städtischen oder staatlichen Museums.

Der Gropius-Bau selbst war deshalb auch von seiner Architektur her eine Reminiszenz, eine Art Akademie oder eine Salon für uns. Und gerade das dialektische Spiel, in so einem Hause das Problem der geschmacksbildenden Ausstellung zur Diskussion zu stellen und zu reflektieren, war ein zusätzlicher Anreiz für die Gestaltung der Zeitgeist-Ausstellung.

F: Gerade dieses Spiel aber ist in der deutschen Kunstkritik auf wenig Gegenliebe gestoßen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Frankfurter Rundschau, in der ZEIT, der Welt, der Süddeutschen Zeitung und auch bei den Alternativen in der TAZ ist Ihre Inszenierung sehr schlecht weggekommen. Wie sehen Sie diese – vor allem negative – Kritik vor dem Hintergrund des Zeitgeistes?

J: Die negative Kritik sehe ich nicht als eine Antwort auf die Inszenierung, sondern auf die Kunst, die im Mittelpunkt dieser Inszenierung steht: Ich glaube, daß ein großer Teil der Kunstkritik doch bestimmten, liebgewordenen Vorstellungen und Attitüden nachhängt, die zwei Momente, ein weltanschauliches und ein psychologisches Moment enthalten. Das psychologische ist die entscheidende Bedeutung für die deutsche intellektuelle Kultur, die Amerika nach dem Krieg gehabt hat. Ich glaube, kein Land in Europa ist so sehr geprägt von der Popart und den Folgen wie die Bundesrepublik Deutschland. Auf der anderen Seite erleben wir die Nachwehen eines Konsensus, der sehr ehrenhaft das intellektuelle Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eint. Ein Konsensus, der, aus den Trümmern des Faschismus geboren, zum Inhalt hatte, daß deutsche Kultur eine gereinigte, rational nachvollziehbare, gezähmte, domestizierte sein muß. Doch: Man kann eine Kultur nicht auf dem Reißbrettisch definieren. Kultur ist etwas Lebendiges, etwas Unberechenbares, Mutatives. Plötzlich kommen Generationen von deutschen Filmemachern, Literaten, Malern und Bildhauern auf den Plan und lassen sich nicht leichtfertig in ein schulmeisterliches Konzept zwängen, sondern sie sehen neben den großen Schattenseiten auch die große Tradition der deutschen Kultur, und sie greifen nicht nur auf eine gereinigte Fassung ihrer Vergangenheit, sondern auch auf die Totalität mit ihren Widersprüchen zurück. Sie entdecken E.T.A. Hoffmann und Novalis, die Romantiker und die expressiven Ekstatiker. Das schockiert, provoziert und erzeugt zum Beispiel bei Ungebildeten den Vorwurf, daß etwa Kiefers Bild mit dem Titel des großartigen Freiheitsliedes der polnischen Nation „Noch ist Polen nicht verloren“ von der deutschen Kritik als „faschistisch“ denunziert wird. Die Leute, die mit Schaum vor dem Mund Kunst beurteilen, haben noch nicht einmal das intellektuelle Werkzeug, Kunstwerke richtig einzuschätzen und zu prüfen.

F: Ein zentraler Vorwurf gegen Ihre Ausstellung in der deutschen Tagespresse lautet, Zeitgeist sei eine Art Verschwörung von Kunsthandel und Kunstvermittlern. Wie war Ihre Zusammenarbeit mit dem internationalen Kunsthandel?

J: Diesen Vorwurf mußten Vollard und Kahnweiler auch ertragen. Immer wenn etwas Neues auf der europäischen Kunstszene und später der amerikanischen auftauchte, wurde denunziert, das sei eine Verschwörung der Galeristen und Kunsthändler. Das ist ein Kontinuum der europäischen Kunstbetrachtung, das ist also nichts Neues und die Unterstellung, daß es hier gerade zum ersten Mal und so prononciert stattfand, finde ich zumindest grotesk. Aber: Kunst war immer handelbar, und gerade im Spätkapitalismus, in unserer heutigen Gesellschaft, ist dies die einzige Zirkulationsmöglichkeit für Kulturprodukte …

Dieser Markt nimmt das Risiko auf sich, das zu zeigen, was zu entdecken ist und was sehr oft später in den Museen unserer Gesellschaft auftaucht. Es ist doch so, daß es fast immer Galerien waren in diesem Jahrhundert, seit Cézanne bis heute, die das Risiko der Präsentation der jeweiligen wichtigen Äußerungen der Bildenden Kunst auf sich nahmen, und nicht das Museum. Das Museum folgte immer hinterher, kodifizierte das, was einige wenige Mutige vorgestellt, vorgeschlagen und zur Diskussion gestellt haben.

F: Kann man sagen, daß es eine sehr enge Zusammenarbeit mit den internationalen Galerien gab?

J: Eine normale Zusammenarbeit, wie immer in einer Ausstellung zur Gestaltung dieses Ausmaßes vonnöten sein wird. Das war in London so der Fall und in Ausstellungen, die ich vor zehn Jahren gemacht habe auch.

F: Verblüffend ist allerdings, daß einige Galerien ganz besonders massiv auftreten, z.B. die Kölner Galerie Michael Werner zeigt ihr gesamtes Künstlerprogramm in dieser Ausstellung. Gab es Einflußnahmen, Druck oder auch Zwänge von irgendwelchen Galerien, wurde dieser Druck versucht?

J: Es gab überhaupt gar keine Zwänge und gar keinen Druck. Ich erinnere mich daran, daß vor einigen Jahren große Museumsausstellungen amerikanischer Kunst nur von einer Galerie bestritten worden sind: nämlich Leo Castelli. Sein Programm galt schon oft für die amerikanische Regierung als die Äußerung der amerikanischen Kunst einer gegebenen Zeit. Wenn man zur Frage nach Michael Werner zurückkommt: Er ist einer der wenigen Galeristen in Europa, die sich sehr früh und sehr intensiv für eine bestimmte Phase, für eine bestimmte Äußerung, für eine bestimmte Haltung in der deutschen Kunst eingesetzt haben. Und wenn in einer Ausstellung diese wenigen Künstler eine wichtige Position haben, dann ist es verständlich, daß sie – von welcher Galerie auch immer – dort berücksichtigt werden.

F: An der Ausstellung „Art into Society – Society into Art“ haben Sie 1974, dem „damaligen Zeitgeist“ entsprechend, in einem Kollektiv von Künstlern und Theoretikern mitgearbeitet. Gefordert wurde eine Demokratisierung der Kunst und der Kunstvermittlung. Wichtigster Impuls hierfür war Joseph Beuys‘ sicherlich nicht wörtlich gemeinte Aussage: Jeder Mensch ein Künstler. Nun präsentieren Sie, zusammen mit Norman Rosenthal in einem Zwei-Mann-Unternehmen den „heutigen Zeitgeist“, ein Vorhaben, das man sich eher als Ergebnis einer interdisziplinären Diskussion vorstellen kann. Fühlen Sie sich nicht überfordert? Oder anders: ist es ein Zeichen der Zeit, daß zwei Ausstellungsmacher nicht nur eine neue Malerei vorstellen, sondern daß sie diese sogar zum Zeitgeist deklarieren?

J: Auch an der Ausstellung „Art into Society – Society into Art“, die Norman Rosenthal und ich 1974 in London gemacht haben, haben nur sieben Künstler teilgenommen. Das bedeutet, daß wir uns schon damals sehr bewußt waren, daß die Demokratisierung der Kunst ein sehr wichtiges Postulat der Kunstvermittlung bleiben muß, nur die entscheidenden kreativen Äußerungen und Setzungen bleiben immer begrenzt. Denn die Utopie von Beuys, vielleicht eine der wesentlichsten theoretischen Bereicherungen in der Kunstdiskussion nach dem Krieg, ist ein theoretisches Postulat, auf die Tiefe der Geschichte hin, es entspricht natürlich noch nicht der Situation von heute. Und heute, in einer arbeitsteiligen, in einer entfremdeten Gesellschaft, ist es nur zu verständlich, daß es der Einzelne ist, der seine Setzung als künstlerisch-kreative oder intellektuelle Maßstäbe zur Diskussion stellt.

F: Hochsubventionierte Kunstausstellungen finden nicht in einem unpolitischen Raum freier Kunst statt. Gerade in Zeiten der ökonomischen Rezession und der politischen Restauration versuchen die Politiker eine ihnen genehme Kunst als Sinnstiftung und Heil zu benutzen. In einer Werbekampagne des Berliner Senats werden deshalb auch die Zeitgeist-Ausstellung und Ihre Person unmittelbar mit der CDU-Politik des Senats verknüpft. Eine Verbindung von Staat, Parteiinteresse und Kunst, wie ich sie von keiner internationalen Kunstausstellung sonst kenne. Wie sehen Sie diese „Ehe“?

J: Ob man das als eine Ehe bezeichnen kann, das sollte man näher untersuchen. Diese Ausstellung ist der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten in Berlin Anfang 1981 vorgelegt worden. Die zuständigen Stellen in diesem Ministerium haben sich lange mit den Vorschlägen auseinandergesetzt und, nachdem in Berlin Wahlen waren und eine neue Landesregierung zustande kam, ist auch die Entscheidung gefallen, dieses Projekt durchzuführen. Wie Sie wissen, der neue Kultusminister, Senator Kewenig, hat sich sehr intensiv für dieses Projekt eingesetzt. Doch der größte Teil der finanziellen Mittel kam vom Bundesinnenministerium, und Bundesminister Baum ist nicht gerade ein Exponent der neuen Wende. Also die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Realität der Entstehung solcher Projekte gilt es zu verstehen. Dies ist anders zu beurteilen als die Werbekampagne eines Informations- und Presseamts.

F: Kommen wir am Schluß unseres Gespräches zurück zu Goethe. Goethe schrieb: „Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, daß die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muß, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeitlang sein Wesen treibt.“ Wie sehen Sie die Zukunft der bildenden Kunst?

J: Ich bin kein Prophet. Ich glaube auch, kein Vermittler sollte sich anmaßen, ein Prophet zu sein. Aber ich denke an Meyer-Graefe, ich denke an Ruskin und meine, daß die Arbeit, die wir heute leisten, morgen beurteilt wird. Und wenn sie Bestand hat, war sie Prophetie für das Morgen.

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